Kieler Nachrichten vom 9. März 2020

Lehrerverbands-Präsident „Höchste Zeit, beim Abi gegenzusteuern“

Heinz-Peter Meidinger, Chef des Deutschen Lehrerverbandes, pflichtet der Aussage bei, dass Schleswig-Holsteins Schüler im bundesweiten Vergleich Nachteile haben. Und er benennt in unserem Interview mehrere Todsünden in der deutschen Bildungspolitik.

Von Christian Hiersemenzel

Herr Meidinger, werden Deutschlands Abiturienten um Chancengerechtigkeit betrogen, wie es der ehemalige SPD-Bildungsminister Mathias Brodkorb behauptet? Brauchen wir ein Deutschland-Abitur, das seinen Namen verdient?

Heinz-Peter Meidinger: In der Tat hat es die Kultusministerkonferenz bis heute nicht geschafft, für mehr Vergleichbarkeit beim Abitur zwischen den Bundesländern zu sorgen. Das hat ja sogar das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Mediziner-Zulassung ausdrücklich beklagt. Das jetzige System benachteiligt die Abiturientinnen und Abiturienten aus Ländern mit anspruchsvollen Abitur und schlechteren Abiturschnitten. Es ist höchste Zeit gegenzusteuern.

Ich glaube, dass sowohl in der Phase vor dem Abitur als auch beim Abitur gleiche Bedingungen herrschen müssen. Zumindest Teile der Abiturprüfung in den Kernfächern sollten deutschlandweit am selben Tag mit den gleichen Aufgaben geschrieben werden. Sonst ist das deutsche Abitur nicht zu retten und wir bekommen wie in den USA Hochschuleingangsprüfungen. Damit würde aber das System noch ungerechter werden.

Sie sprechen von Todsünden in der Bildungspolitik. Geht es in der Schule um Leben und Tod?

Todsünde ist eigentlich ein Begriff aus der Bibel und der Religion. Es sind die Sünden, die dazu führen, dass das ewige Leben verwehrt bleibt. Da gibt es schon Berührungspunkte zur Bildungspolitik. Todsünden in der Schulpolitik führen letztlich zum Tod der Bildung. Es geht aber natürlich nicht darum, dass Bildungspolitiker in die Hölle müssen – wobei man schon wünschen würde, dass mancher für eine verfehlte Reform ein bisschen im Fegefeuer schmoren müsste.

Welche sind die drei wichtigsten Todsünden?

Absolut übel ist es, wenn Entscheidungen nicht sachorientiert, sondern ideologisch begründet sind. Es gab in Schleswig-Holstein Zeiten, in denen die Ideologie der Gemeinschaftsschule eine große Rolle spielte, natürlich auch die Ideologie der Inklusion. Und es gab die Ideologie, dass Schule möglichst alles gleichmachen sollte – Schule als Instrument der Gesellschaftspolitik.

Was ist verkehrt an Inklusion?

Sie ist nicht generell verkehrt, sondern dann, wenn sie alles gleich behandeln und gleichmachen will. Eigentlich soll Schule Kinder in ihrer Individualität fördern. Ich muss aber Ungleiches auch ungleich behandeln, wenn ich den Kindern und ihren unterschiedlichen Begabungen gerecht werden will.

Unsere Bildungspolitik hat den Anspruch, jeden nach seinen Fähigkeiten zu fördern.

Genau das meine ich damit. Individuelle Förderung heißt, nicht nur die Schwachen zu fördern. Wir tun viel zu wenig für Begabtenförderung.

Müssen wir zurück zum dreigliedrigen Schulsystem?

Ein mehrgliedriges Schulsystem hat Vorteile, weil jede Schulart dabei ihr Profil entwickeln kann. Man bräuchte zumindest an der Gemeinschaftsschule auch eine äußere, abschlussbezogene Differenzierung möglichst schon ab Klassenstufe sechs oder sieben. An Gemeinschaftsschulen vermisse ich heute oft die große Stärke, die die Hauptschule früher hatte, nämlich durchgängig berufliche Orientierung zu bieten.

Was ist die Todsünde Nummer zwei?

Dass man sich in der Bildungspolitik nicht an den schulischen Experten, also den Lehrkräften und Bildungsforschern orientiert, sondern an Institutionen außerhalb. Wir hatten in der Bundesrepublik eine Phase, in der man gedacht hat, dass der große Segen für die Bildungspolitik aus der Wirtschaft kommt, Stichwort Neoliberalismus. Der Beschleunigungswahn des G8 stammt aus dieser Zeit. Das ist dem Bildungswesen nicht gut bekommen.

Sollte Bildung vom Berufsleben losgelöst bleiben?

Berufliche Orientierung ist eine wichtige Aufgabe der Schulen. Nur: Der Kern ist Persönlichkeitserziehung. Das Ziel von Schule muss der mündige junge Bürger sein, der sein Leben selbst in die Hand nehmen und in der Gesellschaft Verantwortung übernehmen kann. Und der so viel Grundwissen und Kompetenzen mitbringt, dass er sich in andere Bereiche flexibel einarbeiten kann.

Und das gerät manchmal ins Hintertreffen?

Absolut. Viele Diskussionen über Schule verfehlen den Kern der Bildung. Nehmen Sie mal den Punkt Digitalisierung: Da wird in erster Linie über Technik gesprochen. Dabei wären die eigentlichen Punkte, was Digitalisierung der Pädagogik nutzt sowie der verantwortungsvolle Umgang mit den modernen Medien.

Todsünde Nummer drei?

Todsünde Nummer drei ist die grenzenlose Überforderung der Schule mit gesellschaftlichen Erwartungen und damit einhergehend eine permanente Überlastung von Lehrkräften. Alle Probleme, an denen Politiker scheitern, werden der Schule als Reparaturbetrieb überantwortet. Das beobachte ich in allen Bundesländern. Unter diesen gibt es große und kleine Sünder, aber sicher keine Heiligen.

Welche Erwartungen haben Sie an Bildungspolitiker?

Realistische Ziele zu setzen. Eine Überfrachtung führt dazu, dass Schule immer nur scheitern kann – wenn ihr zum Beispiel als Ziel gesetzt wird, dass der Bildungserfolg von sozialer Herkunft entkoppelt werden muss. Natürlich müssen wir für Chancengerechtigkeit sorgen. Aber wir wissen alle, dass es keine Schule in der Welt geschafft hat, diesen Zusammenhang komplett aufzulösen.

Werden Lehrer in den Burnout getrieben?

Ja, zum Teil tatsächlich. Viele gehen aus Frust auch in die innere Emigration.

Welche spezielle Todsünde erkennen Sie in Schleswig-Holstein?

Die größten Sünden wurden unter Rot-Grün begangen, derzeit erkenne ich aber einen deutlichen Willen zur Besserung und Läuterung.

Schleswig-Holstein sagt mit Alt-Ministerpräsident Peter Harry Carstensen dem Antisemitismus den Kampf an. Welche Aufgabe haben Lehrer?

Wir haben ein Problem mit Antisemitismus in der Gesellschaft und damit auch in der Schule. Lehrer müssen die Ohren spitzen, wenn sich so etwas andeutet, und dürfen nicht weghören. Ein Kollege erzählte, er könne den Film „Schindlers Liste“ nicht mehr zeigen, weil sich in seiner Klasse sofort bestimmte Schüler palästinensischer Herkunft melden und sagen: Die Nazis hätten damals genau das gemacht, was die Juden jetzt mit ihnen machen. Ich bin Geschichtslehrer. Man muss da klar Position beziehen und deutlich machen, dass es da einen himmelweiten Unterschied gibt.

Ist das eine Frage der Lehrerausbildung?

Wir haben in allen Bundesländern Module, die sich mit staatsbürgerlicher Erziehung und Grundlagen der Demokratie befassen. Sich solchen aktuellen Diskussionen zu stellen, dazu gehört aber mehr. Tatsächlich brauchen wir mehr Fortbildungen zu diesem Thema. Und mehr Sensibilität.

Wie soll die entstehen?

Die entsteht nur, indem man in den Kollegien darüber offene Diskussionen führt. Das ist auch eine Frage der Haltung. Zudem brauchen wir Schulleitungen, die die Stärkung einer solchen Haltung auch als originäre Führungsaufgabe sehen.

Das Gespräch führte Christian Hiersemenzel